Ein „Schwarzer Block“ von 11.000 Menschen

Wir dokumentieren im folgenden einen Artikel, der erstmals in der Rote Hilfe Zeitung 1/2021 veröffentlicht wurde:

Hamburgs Staatsschutz pflegt eine gigantische und äußerst fragwürdige G20-Datenbank

Nach dem G20-Gipfel vor bald vier Jahren hat die Hamburger Polizei eine riesige Datenbank angelegt – mit fast 11.000 Verdächtigen, Opfern, Zeug_innen und anderen irgendwie betroffenen Menschen. Das kam erst kürzlich heraus. Und bis heute drückt sich die Polizei um klare Ansagen zu dieser gigantischen Datensammlung.

Kurz nach dem von massiver Polizeigewalt überschatteten Gipfeltreffen hatte die Polizei eine Sonderkommission gegründet: die „SoKo Schwarzer Block“ zur ausschließlichen Ermittlung tatsächlicher oder vermeintlicher Vergehen von Gipfelgegner_innen. Dass diese SoKo Daten sammelte, oftmals recht freihändig interpretierte und bspw. in rechtlich äußerst fragwürdigen, teils europaweiten Fahndungsaufrufen breit veröffentlichte, ist weder neu noch überraschend.

Neu ist allerdings, dass es dafür eine eigene CRIME-Datenbank* gibt – und wie unglaublich groß, wie schwammig definiert und wie unbefristet sie ist. Das brachten erst zwei parlamentarische Anfragen der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft ans Licht. Doch selbst auf Nachfrage antworten Polizei und Innenbehörde so gewunden, dass nicht nur viele Fragen offen bleiben, sondern sich auch neue auftun. Die werden relevant bleiben. Denn zwar wurde die SoKo nach fast drei Jahren intensiver Arbeit, oft im Graubereich der Legalität, im Februar 2020 zu einer Ermittlungsgruppe eingedampft. Aber der von ihr zusammengetragene riesige Datenberg wurde deshalb nicht aufgelöst. Im Gegenteil, die Sammlung wurde an den Hamburger Staatsschutz weitergereicht, das LKA 7. Das führt und nutzt sie weiterhin und will das wohl auch noch für einige Zeit und alle möglichen Ermittlungen tun.

Gespeichert wird alles, was irgendwann irgendwie nützlich sein könnte

Angelegt hat die Polizei die Datensammlung „Schwarzer Block“ bereits am 7. August 2017, einen Monat nach dem G20-Gipfel, „für die Unterstützung der polizeilichen Ermittlungsarbeit bei der Strafverfolgung“. Als Grundlage dient §483 StPO und „selbstverständlich“ würden bei der Ermittlung „auch entlastende Informationen erhoben und berücksichtigt“ und „unzutreffende Fakten“ korrigiert, so die Innenbehörde in der offiziellen Antwort auf die parlamentarische Anfrage. Aber bei aller angeblichen Faktenfixierung: „Teilweise fließen auch auf polizeiliche Erfahrungswerte gestützte Bewertungen“ ein – diese würden jedoch „in der Akte und auch in polizeilichen Datenbanken entsprechend gekennzeichnet“.

Zweifel an der klaren Definition und Nutzungsbeschränkung der massenhaft gespeicherten Daten lässt auch die Errichtungsanordnung aufkommen. Sie beschreibt als Zweck der Datei die „Aufklärung von Straftaten, die im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel, insbesondere im Rahmen der schweren Ausschreitungen in der Zeit vom 6. Juli bis 8. Juli 2017, durch eine Vielzahl von Tätern begangen wurden. Ferner dient die Datei der Dokumentation, Recherche und Auswertung von Informationen/Hinweisen im Zusammenhang mit diesem Ermittlungskomplex zum Erkennen von Bezügen zwischen den jeweiligen Einzeltaten oder fortgesetzter Tathandlungen. Gegenstand sind u.a. Ermittlungen wegen des Tatverdachts des besonders schweren Fall des Landfriedensbruchs gem. §§125, 125a StGB bzw. Brandstiftung gem. §306 StGB. Die Datei ist erforderlich, um die Vielfalt der im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel begangenen Straftaten recherchefähig in einer geeigneten Datenbankanwendung zu erfassen und auszuwerten.“ (Hervorhebungen durch den Autor)

Das ausführliche Zitat zeigt: „Recherchefähig“ sollen also nicht nur „unter anderem“ Brandstiftung und schwerer wie auch schon einfacher Landfriedensbruch gemacht werden, sondern auch weniger schwerwiegende Vorwürfe – bei rund 7.600 Beschuldigten oder Verdächtigen dürfte die Schwelle für die Aufnahme in diese Datei sehr niedrig liegen. „Insbesondere“ sind Delikte während des Gipfels selbst festgehalten – aber eben auch davor und danach. Und „ferner“ dient die Datei dem „Erkennen von Bezügen“. Das liest sich wie die Bauanleitung für einen riesigen Wühltisch, auf den Daten von allen mehr oder weniger greifbaren Leuten geworfen werden, die Monate vor oder nach dem Gipfel irgendwas mit Bezug zu G20 getan haben könnten – vielleicht Aufkleber anbringen, vielleicht im Baumarkt einkaufen, vielleicht ein Blockadetraining organisieren. Vielleicht. Und all das kann und soll in Bezug gesetzt werden. Das freilich darf als sicher angenommen werden. Dazu passt, dass auch Informationen des Geheimdienstes in die Datei eingespeist und „in Bezug gesetzt“ werden.

Den Verdacht eines riesigen Schnüffelarchivs zur linken Szene kann auch die Antwort der Innenbehörde nicht ausräumen: Auf die Frage, nach welchen Kriterien eine Person in der Datei „Schwarzer Block“ lande, heißt es knapp und ausweichend: „Speicherungen erfolgen nur, wenn dies im Sinne des Dateizwecks erforderlich ist. (s.o.)“. Und auf Nachfrage ebenso vielsagend, es „müssen zumindest Tatsachen vorliegen, die auf eine mögliche Täterschaft oder Teilnahme an den der Datei zugrunde liegenden Straftaten schließen lassen“.

Auch bei der Auswahl der gespeicherten Daten ist die Polizei nicht wählerisch: Sie speichert „nur“ die „zur Erfüllung des Dateizweckes erforderlichen Daten“ – also alles, was den Ermittlungen irgendwie dienen könnte. Konkrete Fragen nach der Art der gespeicherten Daten werden „zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Polizei im Bereich der politisch motivierten Kriminalität“ nicht beantwortet. Dafür wird lapidar erklärt, dass „die für die Aufgabenwahrnehmung erforderlichen polizeilichen Datenbanken schutzbedürftige Daten enthalten und gegebenenfalls auf dieser Grundlage getroffene Maßnahmen in die Grundrechte der Betroffenen eingreifen“. Zumal die CRIME-Datenbank auch Daten aus der Einwohnermeldeauskunft, dem Polizeilichen Auskunftssystem POLAS, dem Vorgangsbearbeitungssystem ComVor, dem Zentralen Fahrzeugregister und dem Ausländerzentralregister ziehen kann.

Gelöscht wird nichts – selbst nicht bei Freispruch oder Einstellung

„Gegebenenfalls“ mit Grundrechtseingriffen dürfen dank dieser Datei fast 11.000 Menschen rechnen. Mit Stand 11. September 2020 sind darin 10.699 Personen gespeichert: 2.945 Beschuldigte (davon 1.057 aus Bildauswertung und 694 bis dato unbekannt), 4.633 Verdächtige, 170 Kontakt- oder Begleitpersonen, 1.089 Geschädigte, 1.805 Zeug_innen und Hinweise auf weitere 57 Personen. Erstaunliche Zahlen: Während die Hamburger Datenbank für „linksmotivierte Gewalt“ AURELIA zum selben Zeitpunkt „nur“ 292 Verdächtige oder Beschuldigte führt, sind in der Datei „Schwarzer Block“ unter demselben Label also volle 7.578 Personen gelistet. Und werden es wohl auch noch für lange Zeit bleiben:

Die Daten werden erst spätestens (aber nach weiterer Ausführung regelhaft) „nach gerichtlichem Abschluss des Verfahrenskomplexes“ gelöscht. Weil „Straftaten im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel“ von der Polizei „grundsätzlich als ein zusammenhängender Ermittlungskomplex betrachtet“ werden, dürften auch sämtliche Daten – egal aus welchem Grunde sie aufgenommen wurden – erst aus der Datei gelöscht werden, wenn der Repressionsapparat den gesamten G20-Komplex als vollständig juristisch abgearbeitet betrachtet. Wann auch immer das sein mag. Auch eine Einstellung oder ein Freispruch muss nicht zu einer vorherigen Löschung führen, denn: „Eine isolierte Löschung einzelner Datensätze zu Ermittlungsverfahren und Straftätern nach Eingang des Verfahrensausgangs würde den Dateizweck erheblich gefährden.“ Ausnahmsweise einzelne Löschungen könnte es zwar theoretisch geben – wie oft das bisher vorgekommen sei, will die Polizei aber nicht beantworten. Mit anderen Worten: Einmal „Schwarzer Block“, immer „Schwarzer Block“.

Und das dürfte Folgen haben, die unter anderem die von der Polizei so nebenbei erwähnten Grundrechtseinschränkungen beinhalten. Erinnert sei an die 32 Journalist_innen, denen ihre Akkreditierung für den G20-Gipfel wieder entzogen wurde, weil sie – zum Teil aufgrund falscher Informationen – in polizeilichen Datenbanken auftauchten. Dass eine so gigantische Datei wie „Schwarzer Block“ den Ansprüchen an Datenqualität und -sicherheit nicht gerecht werden kann, liegt auf der Hand. Konsequenzen jenseits der strafrechtlichen Ermittlungen müssten dort Gelistete aber nicht fürchten, behauptet die Polizei: „In den polizeilichen Datenbanken/Auskunftssystemen gibt es keine technisch implementierten Querverweise auf CRIME. Ob und in welchem Umfang eine Person zusätzlich in CRIME erfasst ist, ist für Abfragende nicht erkennbar.“ Lesen dürften die Datensammlung angeblich nur „ausgewählte Beamtinnen und Beamte des LKA 7, Beamtinnen und Beamte des LKA 6 (Abteilung Organisierte Kriminalität und Rauschgiftkriminalität)“ und mit Datenschutzangelegenheiten oder der Wartung der IT betraute Beamt_innen. Auch von außerhalb Hamburgs habe niemand Zugriff.

Mehr Fragen als Antworten

Solche hingeworfenen Formeln müssen freilich nichts heißen. Tatsächlich überprüft wurden die Mega-Datei und ihre Verbindungen in den mehr als drei Jahren ihres Bestehens bisher weder durch den Hamburgischen Datenschutzbeauftragten noch wenigstens den behördlichen Datenschutzbeauftragten der Polizei. Und wer die immer empfehlenswerten Beiträge der Datenschutzgruppe in der RHZ-Rubrik „Get Connected“ verfolgt, weiß: Wenn Polizei und Geheimdienste einmal Daten haben, behalten, verknüpfen und nutzen sie sie auch nach Kräften. Mit anderen Worten: Es wäre durchaus nicht überraschend, wenn bei jeder Datenabfrage im Rahmen einer stinknormalen Kontrolle im Park, am Lenkrad oder am Flughafen „Schwarzer Block!“ aufblinkte – bei allen knapp 11.000 Gelisteten inklusive der 3.400, die nicht als Verdächtige oder Beschuldigte gelten.

Auch warum neben dem Staatsschutz noch die LKA-Abteilung für Organisierte und Rauschgiftkriminalität in der Datei herumstöbern darf, beantwortet die Polizei lapidar mit: „Um die Bearbeitung vertraulicher Hinweise wahrnehmen zu können.“ Ob das bedeuten soll, dass gespeicherten Personen ergänzend Vorwürfe zu Organisierter Kriminalität gemacht werden, die nicht durch die G20-Ermittlungen abgedeckt werden, oder ob Leuten zusätzlich verfolgt werden, weil sie sich beim Zündeln auch gleich noch einen Joint angesteckt haben, und was es mit den „vertraulichen“ Hinweisen auf sich hat, die wohl ohne die Aufnahme in die Datei „Schwarzer Block“ nicht vertraulich behandelt werden könnten – das muss bis auf Weiteres der Fantasie überlassen bleiben.

Autor: Johann Heckel

Die beiden Anfragen mit den Antworten des Senats finden sich unter
https://buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/72539/g20_polizeiliche_datenbank_schwarzer_block.pdf
https://buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/72703/g20_polizeiliche_datenbank_schwarzer_block_ii.pdf

*CRIME-Dateien
Seit 2000 nutzt die Hamburger Polizei die Datenbank CRIME (Criminal Research and Investigation Management Software). Darin führt sie derzeit offiziell 18 Datensammlungen: neun Ermittlungsdateien zur Aufklärung konkreter Taten und neun so genannte Vorsorgedateien („zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“).
Die Vorsorgedatei „Sportgewalt“ etwa verzeichnet für Hamburg 61 Beschuldigte und 31 sog. Störer, die Datei „Zuhälter- und Milieukriminalität“ 1.145 Beschuldigte, 358 Verdächtige und 986 „gefährdete Personen“, die Datei „Rauschgift“ 2.280 Beschuldigte, 1.121 „potentielle Täter“ und 137 „Kontakt-/Begleitpersonen“ (alles Stand 28. 9. 2020). Weiter existieren die Vorsorgedateien „Türstehergewalt“, „Intensivtäter“, „Sexualdelikte“, „Organisierte Kriminalität“ und „DIET“ (Islamischer und anderer „ausländischer“ Extremismus und Terrorismus) sowie die Vorsorgedatei AURELIA („linksmotivierte Gewalt“), in der offiziell (Stand 11. 9. 2020) 292 Personen gespeichert sind – alle „unter der Personenkategorie „Beschuldigte(r)/Verdächtige(r)“.
Von den neun Ermittlungsdateien macht die Polizei nur Angaben zur Datei „Schwarzer Block“, die Eintragungen zu insgesamt 10.699 Personen (Stand 11. 9. 2020) enthält. Zu den acht anderen Ermittlungsdateien (ergänzend zu oder unabhängig von den sog. Vorsorgedateien) verweigert die Polizei „aus kriminaltaktischen Gründen“ weitere Angaben. Lediglich in ihrer Größenordnung erstaunliche Zahlen gibt es dazu: Die acht Dateien umfassen Daten von insgesamt u.a. 45 Beschuldigten, 629 Verdächtigen, 3.312 Zeug_innen, 432 Hinweisgeber_innen, 1.281 Kontakt-/Begleitpersonen und 1.158 Anschlussinhaber_innen.